"Moin Thies, wie geiht di dat?" begrüsst Haeggar den Schüler, der bei ihm Förderung in Mathe bekommt. Sie haben letzte Woche nochmal intensiv alle möglichen Gleichungen nach x aufgelöst, und beide hatten eigentlich ein gutes Gefühl, als sie sich verabschiedeten. Mittlerweile hat die Prüfung stattgefunden - und Haeggar hofft wie immer auf ein Erfolgserlebnis.
"Jo, man so" grummelt Thies etwas mundfaul. Und da weiss Haeggar, dass der Test wieder ein Rückschlag war.
Er möchte mit Thies die Klausur nochmal durchgehen: Was hat geklappt? Wo hast du Punkte liegen lassen? Warum konntest du das gute Gefühl nicht umsetzen in zählbare Leistung in der Prüfung"
Aber Thies winkt ab. "Bevor ich mich jetzt aufrege, isses mir lieber egal. Ich bin eh schlecht in Mathe. Abgesehen davon habe ich bereits das nächste Themenheft bekommen. Das muss in 14 Tagen fertig sein."
Das ist Alltag in der Schule - egal in welchem Fach. Es wird ein Thema durchgenommen. Die Sozial- und /oder Lehr- und Lernform kann variieren, aber am Schluss gibt es eine Prüfung. Wenn die Lehrperson den Test zurückgibt, schauen die allermeisten Lernenden oben rechts aufs Blatt - und sie wissen sofort Bescheid. "Ich bin halt gut" oder "ich weiss doch, dass ich schlecht bin." Kaum jemand nimmt sich die Zeit, die Prüfung und den vorgelagerten Lernprozess zu analysieren. (Ein Trainer seziert das Video vom Spiel, um in der nächsten Trainingsphase die Stärken weiter zu optimieren und die Schwächen zu reduzieren.) Das Thema ist erledigt, die Blätter werden abgeheftet, das nächste Thema beginnt. ("Und ewig grüsst das Murmeltier.")
Wenn es sich um ein isoliertes Thema handelt, dann ist dieser Ablauf nicht ganz so tragisch. Aber häufig ist ein grösserer Lernprozess aufgeteilt in kleinere Themen, die aufeinander aufbauen. Und egal, ob man den Zehnerübergang im Zahlenraum 20 beherrscht - auf dem Jahresplan stehen jetzt die Zahlen bis 100.
Und schon wieder stellen sich eine Frage und ein Problem:
Die Sinnfrage lautet: Sorgt die Schule dafür, dass die Schülerinnen und Schüler Kompetenzen erwerben und weist diese aus, oder reicht es, wenn man die Lernenden Niveaus zuordnen kann?
Sollte der Fähigkeitserwerb im Zentrum stehen, dann steht man vor einem grossen Problem, dem Zeit-Heterogenitäts-Dilemma. Es erwerben nicht alle Kinder/Jugendliche in der gleichen Zeit die gleichen Fertigkeiten.
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Salman Khan, der Begründer der Khan Academy, beschreibt dieses Phänomen auch in seinem Buch "The one world School House".
“[…] that once the concept had passed her by, it wasn't coming back in class. That module had been covered. Those problems hat been worked on und erased. There was a curriculum to follow, a schedule to keep; the class had to move on." Der Lehrplan oder vielmehr die verwendeten Lehrmittel geben den Takt vor.
Er verweist hier auf eine andere Herangehensweise - mastery learning. "At ist most fundamental, mastery learning simply suggests that studenst should adequately comprehend a given concept before being expected to understand a more advanced one." Im traditionellen System ist die zur Verfügung stehende Zeit, um ein Thema zu verstehen, vorgegeben, und die Qualität der Erreichung ist variabel. Mastery learning wählt einen anderen Ansatz. "What should be fixed is a high level of comprehension and what should be variable is the amount of time students have to understand a concept."
Und so sind die Kurse in der Khan Academy auch konzipiert. Ein grosses Lerngebiet ist unterteilt in viele einzelne Schritte, die der Student dann in seinem Tempo absolviert.
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André Stern, der nie in einer Schule war, war nie diesem Zeitdiktat ausgesetzt. Er wollte etwas lernen - und dann hat er so viel Zeit und Energie aufgewendet, wie nötig war, um diese Fertigkeit zu erlernen. Wer sein Buch liest, wird beeindruckt sein von dem enormen und umfassenden Engagement.
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'Die Schere öffnet sich' ist ein negativ besetzter Begriff im Umfeld Schule. Und wir alle haben eine Vorstellung davon, was es bedeutet. Demzufolge wäre ja der Gegensatz wünschenswert, eine 'geschlossene Schere'. - Wirklich?
Apropos Schere: Es ist eine Tatsache, dass die Schere immer geöffnet ist, egal ob es sich dabei um eine AdL-Klasse oder eine Jahrgangsklasse handelt. Dem wird allzu oft keine Beachtung geschenkt. Die grosse Kunst besteht darin, diese Tatsache zu erkennen, zu akzeptieren und dementsprechend zu handeln.
Ein Austausch mit Gleichgesinnten würde mich sehr interessieren.