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Eierlegende Wollmilchsau, Schwarm-Kompetenz oder?

Menschen sind - und waren immer schon - verschieden. #Heterogenität gehört deshalb zum daily business von Lehrpersonen. Wird die Unterschiedlichkeit immer ausgeprägter oder differenzieren wir einfach immer mehr und feiner? Gibt es ein Zuviel an Heterogenität und wenn ja, wie kann man sie reduzieren? Gibt es ein Zuwenig an Fähigkeiten des Umgangs mit Verschiedenheit und wenn ja, wie kann man sie steigern?


 

Haeggar ist zurück von einem Heilpädagogen-Kongress und ihm brummt der Kopf. Hyper- und hypoaktiv, hoch- und minderbegabt, #LRS und #ADS, #DaZ und #ASS, #hochsensitiv und #verhaltensauffällig, Lega und Logo, #Dyskalkulie… Und alles gepaart mit Prozentangaben. Ist LRS nun die Links-Rechts-Schwäche, die ihn befällt, wenn seine Frau im Verkehr plötzlich ruft: Da vorne rechts! Bedeutet #ADHS im jugendlichen WhatsApp-Abkürzungsslang "Alter, deine Hose sitzt"? Ist ASS gross geschrieben das Akronym von AutismusSpektrum-Störung, oder ist es - klein geschrieben und nur gedacht - die Zuschreibung an den verhaltensoriginellen 7. Klässler?

Haeggars Blick fällt auf das aktuelle Klassenfoto. Und er verteilt all die Zuschreibungen und Phänomene, von denen er gehört hat, ungefähr den Prozentangaben entsprechend auf seine Klasse. Krass!



 

Ich glaube nicht, dass wir früher deutlich homogenere Klassen hatten. Aber man hat im Laufe der Zeit mehr geforscht und publiziert, es gibt eine vielfältige Therapielandschaft und die Buchhandlungen sind voll von Ratgeber-Büchern aller Art. Man weiss mittlerweile viel mehr und kann Phänomene benennen und häufig auch therapieren. Eigentlich ein Fortschritt, oder?


Die Anzahl der Phänomene und demzufolge der Etiketten steigt stetig. Und trotz dieser Ausdifferenzierung wird die Komplexität nicht reduziert. LRS wird häufig vom Schulpsychologischen Dienst diagnostiziert. LRS bedeutet Lese- und/oder Rechtschreibstörung - ein riesiges Feld. Autismus-Spektrum-Störung ASS trägt die grosse Spannweite ja schon im Namen. Deutsch als Zweitsprache reicht auch von ‚gar kein‘ bis ‚ein bisschen‘ Deutsch. Von der logischen Kausalkette ‚wenn a diagnostiziert, dann b machen‘ kann keine Rede sein.


Machen wir noch ein Fass auf. Die meisten Phänomene können ja verschiedene Ursachen haben und demnach andere Massnahmen nötig machen. Leseschwäche zum Beispiel kann von den Augen herrühren; vielleicht war auch der Leselehrgang ungenügend; eventuell gibt es keine Lesevorbilder…


Innerhalb der Wissenschaft gab und gibt es unterschiedliche Ansätze und Auffassungen dazu, welche Ursachen einer LRS oder Legasthenie zugrunde liegen. Denn Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten stellen ein komplexes Störungsbild dar. Auch wenn der Auslöser einer Lese-Rechtschreibstörung noch nicht vollständig geklärt sind, ist man sich darüber einig, dass die Ursachen für Legasthenie bzw. LRS multifaktoriell sind, unterschiedliche Gründe also zu einer Lese-Rechtschreib-Schwäche führen können.

Manche Wissenschaftler bringen die LRS bzw. Legasthenie auch mit einer Störung der auditiven und visuellen Wahrnehmung in Verbindung. Dabei geht man davon aus, dass in bestimmten Regionen des Gehirns z. B. Schwierigkeiten bei der phonologischen Informationsverarbeitung bzw. der Buchstaben-Laut- und die Laut-Buchstaben-Zuordnung auftreten.

Auch Störungen der Aufmerksamkeit wie ADS und ADHS treten häufig zusammen mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten auf. Tatsächlich ist es jedoch oft so, dass das Kind gerade deshalb ein für ADS oder ADHS typisches Verhalten zeigt, weil es an einer LRS leidet. Versagens- und Schulangst, wie sie bei Legasthenie oft vorkommen, können zu auffälligem Verhalten führen, das dann fälschlicherweise mit ADS oder ADHS in Verbindung gebracht und deshalb nicht richtig erkannt wird. Die Aufmerksamkeitsstörung ist in solchen Fällen nicht Ursache, sondern Folge der LRS.

Mangelhafte schulische Förderung, Unterrichtsstörungen und -ausfälle, geringe familiäre Unterstützung sowie Entmutigung durch ständige Vorwürfe können als soziale Komponenten ebenfalls zur Verstärkung einer LRS beitragen.

Letztlich konnten nach aktuellem Stand keine Faktoren ermittelt werden, die alle Fälle von LRS, Legasthenie oder Lese-Rechtschreib-Störungen hätten erklären können. Es ist davon auszugehen, dass mehrere Faktoren an der Entstehung von Problemen beim Lesen und Schreiben beteiligt sind.

https://www.los.de/ratgeber-fuer-lrs/lrs/lrs-ursachen


Dieser Ausschnitt von einer Homepage, die viele Infos liefert und Hilfe bei LRS anbietet, zeigt deutlich die Komplexität auf.

Die Anzahl der Abklärungen und die Verfügbarkeit von geeigneten Therapien sind natürlich aus verschiedenen Gründen beschränkt. Und die eine oder andere Zuweisung in eine andere Schule macht die Klasse auch nur unwesentlich homogener.

Tatsache ist und bleibt: in unseren Klassen sitzt immer ein bunter Blumenstrauss von Individuen, und wir beobachten immer eine üppige Fülle von Phänomenen (Begabungen, Verhaltensweisen, Charakterzügen, Beeinträchtigungen...).


Eine weitere Dimension geht auf, wenn man an den Fächerkanon denkt, den Lehrpersonen der Primarschule abdecken. Mathe, Sprachen, Naturwissenschaften, Sport, textil-technisches Gestalten, Zeichnen, Musik. Und jeder Fachverband möchte, dass man dessen Fach mit grossem Sachverstand und riesiger Begeisterung unterrichtet.

Wow! Wie soll man das alles stemmen?

Ich skizziere ein paar Ansätze.

 

Wir können das Therapie- und Unterstützungsangebot ausdifferenzieren und verbreitern - und stossen dabei schnell an verschiedene Grenzen (Finanzen, Therapieangebot wo?, Stigmatisierung um nur wenige zu nennen. Das Problem lösen wir so nicht.


Die eierlegende Wollmilchsau ist angesichts der Fülle der Aufgaben (wie oben beschrieben) auch überfordert.


Was wären dann andere Handlungsansätze?

Die Schwarm-Kompetenz könnte helfen. Gemeint ist damit das Gesamtwissen, das im Team der Lehrpersonen vorhanden ist. Vielleicht muss man diese Handlungskompetenz bewusst erweitern. Die Schulleitung plant und steuert, dass LP1 sich über Hypersensitivität informiert, LP2 sich vor allem für ADHS interessiert und LP3 eine Ausbildung im Bereich ASS macht… Und in solchen eigenen Kompetenzteams kann man dann Fallbesprechungen machen.


Und wenn wir die ausufernde und erdrückende Komplexität einfach aufs Wesentliche und Verbindende reduzieren? Wenn wir nicht immer tiefer in die Details zoomen sondern uns auf eine andere Flughöhe begeben?


Ein ‚homo paedagogicus‘ organisiert zusammen mit einer Gruppe von jungen Menschen ein Umfeld, in dem gelernt wird. Zentrales Anliegen ist, dass jeder Lernende individuelle Fortschritte macht, dass er #Lernerfolge und #Selbstwirksamkeit erlebt. Als wertvolle Einzelmenschen sind alle Teil einer Gemeinschaft, die eine angstfreie Atmosphäre des Vertrauens und des entwicklungsorientierten Umgangs mit Fehlern schafft.


Es ist normal verschieden zu sein. Und es ist normal nicht perfekt zu sein.

 

Fietes schnaetch #6

Gedanken und Rückmeldungen gerne an: fiete-clausen@mail.ch

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