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Lernen in Corona-Zeiten

Fiete Clausen, ein ehemaliger Lehrer und jetziger Freund von Haeggar, kam durch das Corona-Virus zu einem aussergewöhnlichen Job - er wurde Fahrer vom "LLD" (Lern-Liefer-Dienst). Zweimal die Woche band er seinen Handwagen an den Gepäckträger seines antiquierten Melker-Rades und fuhr in die Schule. Dort hatten die Lehrpersonen "Lernpakete" für ihre Schützlinge aufgeschichtet. Fiete lud die Pakete (die Route durchs Dorf berücksichtigend) auf den Hänger und fuhr anschliessend los; Über schmale Strassen, holprige kopfsteingepflasterte Gassen und staubige Feldwege kreuz und quer durch Lörnersiel. Er deponierte die Lernpakete im Milchkasten, im Schuppen, vor der Türe oder im KALM (Kiste für den Austausch von LernMaterial) und nahm die bearbeiteten und auf ihre Korrektur wartenden Portionen wieder mit.

Ab und an ergab sich dabei die Gelegenheit für einen Klönschnack über den Gartenzaun hinweg, manchmal nur ein knappes "Moin" im Vorbeifahren. Mit der Zeit bekam Fiete aber einen Eindruck, wie die "Heim-Schulung" in Lörnersiel so von sich ging.


Ich möchte das Kapitel "Lernen" aus meinem Buch mal durch die Corona-Brille anschauen.


1.1 Lernen ist persönlich

Lernen steht immer in Zusammenhang mit Vorerfahrungen und Vorwissen. „Jeder Mensch ist anders, jeder Mensch hat andere Erfahrungen gemacht, jeder Mensch nimmt anders (und anderes) wahr. Lernen ist damit eine zutiefst individuelle Angelegenheit, die immer in Bezug steht zum biografischen Hintergrund des Lernenden.“ (Müller 2013) Lernen ist eben nicht (wie in der Schule häufig angenommen bzw. vorausgesetzt) die automatische Folge von Lehren.

Neben dieser Bedeutungsebene von persönlich im Sinne von individuell gibt es auch den sozial-kommunikativen Aspekt. „Lehren und Lernen sind stets kommunikative Akte: Entweder spricht der Lehrer die Lernenden direkt an, oder er beeinflusst sie auf nichtverbale Weise – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – über Mimik, Gestik, Körperhaltung, Intonation der Stimme und seine Bewegungen.“ (Roth 2014) Über Gestik, Mimik, Stimmführung und Körperhaltung teilt man seiner Umgebung (meist unbewusst) mit, wie man sich fühlt, welche Haltung man zum Gegenüber hat. Die Lehrperson ist deshalb ganz wichtig in punkto Klassenklima bzw. Lernatmosphäre.

Lehren und Lernen werden von Individuen ausgeführt, und die verschiedenen Persönlichkeiten haben ihren Einfluss.


Gerade in diesem Bereich müssen wir in Corona-Zeiten grosse Abstriche machen. Die Persönlichkeitsmerkmale der Lehrenden und der Lernenden haben natürlich immer noch ihren Einfluss, aber es findet kaum noch ein Austausch statt. Die Lehrperson sieht nicht, wie die Schülerinnen oder Schüler mit den Anforderungen umgehen. Dafür gibt es viele Eltern, die neue Erkenntnisse über das Lern- und Arbeitsverhalten ihrer Sprösslinge gewinnen.

Auf der anderen Seite überraschen mich viele Kinder. Es gibt solche, die gehen mit dieser Situation hervorragend um. Sie scheinen sogar aufzublühen, weil sie ein Stück weit selbstverantwortlich arbeiten müssen (dürfen!). Vielleicht stimmt auch die Work-Life-Balance besser. Ich habe von einigen Kindern Seiten erlebt, die sie so in der normalen Zeit kaum gezeigt haben - vielleicht hat die Schule auch nicht den Raum geboten oder ich habe es schlicht übersehen. Es ergeben sich aber auch Kontakte, die ich intensiver empfinde als sonst.

Die Individualisierung hat in dieser Phase des "Lieferdienst-Lernens" für die Lehrpersonen ihre Grenzen. Und so erleben wir die Verschiedenheit unmittelbar. Während die einen Schülerinnen und Schüler - kaum im Besitze des neuen Materials - bereits um Nachschub 'betteln', werden andere das kommunizierte Abgabeziel um Tage verfehlen.

Ich bin überzeugt, dass Kinder in der Corona-Zeit vieles lernen. Ich bezweifle aber, dass sie im Sinne der Schule viel dazulernen. Ich möchte das aber auf keinen Fall wertend gegeneinander aufwiegen.



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